Ein paar Gedanken zur Dernière

„Die Räuber“, 1781 anonym veröffentlicht, 1782 uraufgeführt, war einer der gewaltigsten Theatererfolge auf deutschen Bühnen. In den Schulen heute teilweise immer noch Pflichtlektüre, weckt es bei den jungen Lesern in der Regel keine Begeisterungsstürme. 

Wenige Jahre vor der Französischen Revolution (1789) brachte der junge Mann Schiller in seinem Erstlingswerk die zentralen Tendenzen der Zeit auf die Bühne. Die patriarchalische Ordnung, repräsentiert durch die Familie Moor, pervertiert sich zur „aufgeklärten“ Tyrannei in der Gestalt von Franz Moor. Die sich abzeichnende Idee einer neuen, egalitären Gesellschaft, repräsentiert durch die Räuberbande, nimmt schon die Gewaltexzesse der späteren Revolution vorweg. Die Feindschaft zwischen den ungleichen Brüdern lässt schon die Koalitionskriege erahnen, die später ganz Europa spalteten.

Diese Spannungen waren für das Publikum so präsent, dass sie sich im Theatersaal weinend in den Armen lagen. 

Aber was zeigen uns „Die Räuber“ heute?

Die Geschichte erzählt, wie zwei Brüder sich gegenseitig hassen und gemeinsam ihren Vater ermorden. Sie hat für mich etwas Urtümliches wie die Erzählungen der Bibel, etwa die von Kain und Abel und das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Das Stück zeigt, wie Konflikte entstehen und eskalieren, so dass sie zuletzt in mechanische Reaktionsmuster ausarten, die in eine totale Zerstörung münden. Wie aktuell in dieser Hinsicht unser Stück sein könnte, haben wir am Anfang der Proben nicht geahnt.

Die Konfliktverläufe tragen männliche Züge und der katastrophale Schluss steht offensichtlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mangel an Frauen. Eine Mutter gibt es scheinbar nicht. Auch keine Schwester. Die einzige Frau, Amalia, lebt als Mündel in totaler Abhängigkeit von Männern. Sie muss sich mit all ihrer Kraft gegen den Ungeliebten zur Wehr setzen und wird schließlich von ihrem Geliebten getötet.

Männer streben nach Größe, selbst die Knirpse unter ihnen. Männer fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt. Männer müssen sich für alles revanchieren. Ein ganzer Mann darf nicht zögern und sich besinnen, sondern muss sofort handeln wie ein Revolverheld beim Show-down. Ein Mann darf keine Gefühle zeigen. Dafür hat man ja Schnaps. Brutalität gilt als Stärke. Todesangst ist verpönt. Fehler eingestehen ist Schwäche. Männer halten zusammen auch im Verbrechen. Wer sein Wort nicht hält, schießt sich eine Kugel durch den Kopf.  Oder sie sind Einzelkämpfer und boxen sich durch, wenn’s sein muss, auf Biegen und Brechen. Nur – von heroischer Größe zu Hysterie und lächerlichem Größenwahn ist nur ein kleiner Schritt.

Für die Gesamtheit dieser entfesselten Männlichkeit steht die Räuberbande. Auch sie erscheint mir wie das Urbild aller Männerbünde. Der Theorie nach republikanisch: Hier herrsch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In der Realität die Verkörperung des Gruppenzwangs schlechthin. Es gibt sie auch heute in der Form von Seilschaften, Cliquenwirtschaft, Amigos, Thinktanks, aber auch in den Phantasieprodukten der Shooter-Spiele, der Actionkrimis. Manch junger Mensch hat sie schon erlebt, in Schule, Internat oder bei der Bundeswehr.

Die Frauen unter unseren Darstellern spielen Männer, die ihre weibliche Seite unterdrücken müssen, um in der Bande akzeptiert zu werden.

Das Stück zeigt aber auch die leisen Gegenkräfte, die zur Versöhnung führen könnten, aber vom Konfliktgetöse der Machthaber überdröhnt werden: Es ist die Selbsterkenntnis und Reue des alten Vaters, der als Erzieher versagt hat. Er bittet seine Söhne um Vergebung und ist daher fähig sogar seinem Peiniger Franz zu vergeben. Es ist die bedingungslose Liebe Amalias, die auch in dem besudelten Räuberhauptmann den Geliebten wiedererkennt. Es ist das gute Herz des Dieners Daniel, das sich den Mordplänen seines Herren widersetzt und sich bei aller Unterwürfigkeit nicht in seinem Gewissen beirren lässt. Es ist das Erbarmen, das sogar den Mordgehilfen Hermann ergreift, als er den Jammer sieht, den er angerichtet hat.

Das Stück zeigt auch, wie aus einem Gefühl der ungerechten Behandlung heraus Menschenbilder entwickelt werden, die im Grunde nur die persönliche Lust auf Rache und Gewalt rechtfertigen sollen: die Ideologie des Materialismus (Franz) und die Ideologie der revolutionären Gewalt (Karl). Auch hier erstaunlich aktuell: Die beleidigte Leberwurst spinnt sich eine Ideologie zusammen, um einen Krieg zu begründen.

Der tyrannische Franz, der alles um sich herum ausrotten will, das ihn daran hindert, Herr zu sein, ist eigentlich nur ein kleiner Junge, der beleidigt darüber ist, dass nicht er, sondern sein Bruder das Schoßkind von Vater Graf und Mutter Natur ist. Schlau, wie er ist, legt er sich ein rationalistisches Weltbild zurecht, in dem es keinen Platz mehr gibt für das Gewissen, das ihn von Vatermord und Brudermord abhalten könnte.

Der rebellische Karl ist aus dem Grunde so rebellisch, weil er plötzlich nicht mehr wie bisher Papas Liebling ist, sondern sich von ihm verstoßen fühlt. Daher hält er die ganze Menschheit für eine „heuchlerische Krokodilsbrut“, die man im Dienste einer höheren Gerechtigkeit ausrotten darf, zumindest diejenigen, die sich auf Kosten anderer erfolgreich bereichert haben.

Der Weg zurück ist den verlorenen Söhnen verbaut. 

Karl versucht es, sich aus der Räuberbande zu lösen und zu seinem Vater und zu seiner Amalia zurückzukehren – aber nur inkognito.  Sobald er aber seine Identität als Räuber offenbart, sieht er sich in den Klauen seiner Bande, die für ihn ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben.

Franz findet erst einen Anlass zur Umkehr, als er den Tod vor Augen sieht. Der Pfarrer Moser weckt in ihm das Gewissen, aber er zeigt ihm keinen Weg zu Reue und Vergebung und treibt ihn damit in den Selbstmord.

Es gibt auch einen verlorenen Vater in dem Stück, der alte Moor, der erkannt hat, dass er die Schuld an dem Bruderzwist trägt, da er die beiden Söhne so ungleich behandelte und blindlings den Einflüsterungen seines Sohnes Franz vertraute. Aus seiner kritischen Selbsterkenntnis heraus verkündet er das „Evangelium“ der Vergebung und des Erbarmens. Aber er kommt zu spät.

Herzzerreißend sind die letzten Akte, weil man das Happy-Ending so dicht vor Augen gehalten bekommt. Der alte Diener erkennt Karl und nimmt ihn in die Arme. Ebenso Amalia, die ihr idealisiertes Bild von Karl erschüttert sieht: „Mörder, Teufel! – Ich kann dich Engel nicht lassen.“ Auch sie umarmt ihn.  Der alte Vater gibt ihm – er weiß nicht, dass es Karl ist – den Segen: „Sei so glücklich, als du dich erbarmst!“ Auch er umarmt Karl in unserer Inszenierung, als er in dem Räuberhauptmann seinen Sohn erkennt – und stirbt. 

Sogar für Franz deutet sich eine Möglichkeit zur Versöhnung mit seinem Vater und mit seinem Bruder an, aber er kommt ihr mit seinem Selbstmord zuvor. 

Ein erstaunlich tiefreligiöses Stück. Mein Lieblingssatz aus den Räubern: 

„Siehe, die Gottheit ermüdet nicht im Erbarmen, und wir armseligen Würmer gehen schlafen mit unserm Groll.“

Herzliche Grüße vom Regisseur

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